diary of jazz

#35 „Dreh’ den Kopf um und fang’ von vorne an!“ |

Gespräch mit Peter Brötzmann (1)

Text: Karl Lippegaus | Fotos: Michel Laborde

Köln, 09.03.2021 | „I lost a brother.“ (Brötzmann über Toshinori Kondo, 1948-2020)

KL: Eine der eindrucksvollsten Bands im Jazz der 90er Jahre war für viele nach ‚Last Exit‘ mit Bill Laswell ‚Die Like A Dog‘, deine Gruppe mit William Parker (b), Hamid Drake (dr) und Toshinori Kondo, zu hören auf einem halben Dutzend großer Alben auf FMP (Free Music Production).

PB: Das war ein gutes Quartett, ja. Ich bin ja nicht so ein Freund von diesen elektronisch „verbastelten“ Dingen, und für mich ist Kondo auch der Einzige, der es richtig gut macht. Dieses Quartett Die Like A Dog ist entstanden, als ich mit Kondo in Amsterdam in einem Café saß und wir uns getroffen hatten, weil er die letzten 10-15 Jahre ein kleines Apartment dort hatte. Wir haben über (den Saxofonisten Albert) Ayler geredet, zu jener Zeit war ich im Trio mit Hamid und William unterwegs; wir waren uns einig über Aylers Intentionen usw.. Da haben wir beschlossen, ok – dann machen wir dieses Quartett.

Es gibt mit (Toshinori) Kondo – was gar nicht so häufig ist mit japanischen Menschen – eine ziemlich tiefe Freundschaft, und auch wenn wir uns manchmal lange Zeit nicht sehen: es ist eine außergewöhnliche Verbindung, und die zeigt sich hoffentlich auch in der Musik.

Es hat ja immer wieder Versuche von „In memoriam“-Bands gegeben, und gerade die, die auf europäischen Terrains stattfanden, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aylers Musik ist eine ungemein amerikanische: mit ganz tiefen Wurzeln im Kleinbürgertum. Da kommen wir einfach nicht ´ran, den Fehler sollte man auch nicht machen, zu meinen, man kriegte den selben Geist zustande.

Man kann bloß hören, lernen, einfach das tun, was man als Künstler tun sollte: herausfinden was man selbst will. Es gab jahrzehntelang Hunderttausende von Coltrane-Nachfolgern und keiner konnte es. Das ist einfach ein Fehler, der anscheinend automatisch passiert, wenn irgendein großer Mann stirbt. Dann springen Tausende auf den Begräbniswagen und meinen, sie kriegen noch ´n Stück ab. Das geht nicht, das ist Quatsch. Man sollte nur herausfinden, in aller Bescheidenheit, was man selbst zu tun in der Lage ist. Oder wie man den Visionen und Vorstellungen, die man hat, so nahe wie möglich kommen kann. Wenn ich dann mal dem nahe bin, eröffnet sich auch schon wieder die nächste Sicht. Darum geht es, das kann man lernen.

Ein allgemeines Missverständnis in der Jazzmusik ist, dass man stets denkt: Ok, ich versuche es mit Charlie Parker oder à la Miles – das war immer so. Als Miles gestorben war, gab’s gleich Versuche. Aber das ist ein Riesenfehler, und ich finde auch alle diese Bands, die sich da mit Ellington beschäftigen oder Dinge ausgraben, ob große oder kleine – so wichtig Ellington ist, ich halte ihn für einen der größten Komponisten und Musiker des 20. Jahrhunderts – aber es hat doch keinen Sinn, Dinge, die so hundertprozentig gut gespielt sind, noch mal nachzuspielen und sich einzubilden, man kann’s genauso gut. Kann man nicht und sollte man auch nicht tun.

KL: Wenn man sich dein Album „For Adolphe Sax“ (1967) anhört, merkt man, dass offensichtlich unabhängig von Albert Ayler jemand zur freien Improvisation gekommen sind, mit anderen Worten diese „Brötzmann-Welt“ ist schon ganz da.

PB: Ich hab’ immer gerne alles gehört, von Sidney Bechet und Coleman Hawkins (immer noch mein favorisierter Tenorspieler) angefangen. In meinen jungen Jahren gab’s die Chance, all diese Gruppen live zu sehen: Coltrane mit Dolphy, Miles mit dem Quintett, ein paar mal das Ellington-Orchester, Count Basie – was es auch gab, es war alles möglich, Art Blakey und Horace Silver, Charlie Mingus usw.. Das war natürlich eine ganz große Schule und ich hab auch immer mit ziemlich großen Ohren zugehört.

Bloß war ich auch damals schon als ziemlich junger Mann der Meinung: mein Leben ist meins und ich sehe mal, was ich damit mache. Sicherlich kann man ein paar kleine Parallelen zu Ayler ziehen: eine davon ist, dass es zeitgleich passierte, allerdings unabhängig voneinander, auf verschiedenen Kontinenten. Die zweite Parallele ist, dass wir zu Anfang nicht die allerbesten Saxophonspieler waren. (lacht) Aufgrund dessen fanden wir unseren Weg, das Ding anders zu bahnen, als man das durch Schule und Lehrer gewöhnlich beigebracht kriegt. Aber da hört es schon auf. Ich bin nun mal mit diesem mittelprächtigen Background hier in Europa groß geworden als Nachkriegskind und Ayler hat seine amerikanische Geschichte auf dem Buckel gehabt. Da gibt’s auch nichts, was man zusammenschmeißen kann. Ist ja auch Blödsinn und sollte man nicht machen.

In den ganz frühen Jahren war mein erster großer Eindruck - außer Sidney Bechet, den ich hier in Wuppertal als Kind, als Schüler zweimal gehört habe - die von Lippmann & Rau organisierten American Folk & Blues-Festivals. Ich bin immer noch ein Fan von Howlin’ Wolf und war damals ein ganz schüchterner Kerl, hab aber den Weg gefunden backstage und den Typen die Hand geschüttelt – oder vielmehr er hat meine geschüttelt, solche Pranken hatte er! (lacht) Das war ungemein beeindruckend, und ich hab nie gedacht, wir seien jetzt in der Lage, den amerikanischen Blues zu spielen. Bloß denke ich, dass jeder Mensch seine eigene Art von Blues in sich hat und der muss sich nicht in 12 oder 32 Takten äußern.

KL: Der Kritiker Steve Lake hat viele Texte für die FMP->Alben verfasst und geschrieben: „Eine der Widersprüchlichkeiten in Brötzmanns musikalischem Weltbild ist, dass er, obwohl Mitentwickler des „experimentellen Jazz“, am Experimentalismus an sich wenig Gefallen findet. Er wird ungeduldig, sobald Konzerte in das abdriften, was er ‚diese europäische Avantgarde-Scheiße´ nennt.“

PB: (lacht) Das mag ich durchaus mal gesagt haben. Nee, mal ernsthaft: In meinen Ohren gibt es derzeit sowohl in Amerika als auch in Europa wenig Überzeugendes. Vielleicht entwickelt sich – wenn man mal Europa als Ganzes sieht und es mit der Szene in den Staaten vergleicht – hier ein bisschen mehr als drüben. Das hat immer wieder zu tun - das musste ich lernen, um meine Kollegen besser verstehen zu können - mit der total anderen Situation in Amerika, mit dieser Art von Musik zu überleben. Wir haben’s auch nicht leicht, auch ich hab´s nie leicht gehabt - ich kann nicht meckern, denn seit einigen Jahren ist es besser. Ich hatte ja auch ganz früh eine Familie und die musste auch versorgt werden; gottseidank hatte ich auch ´ne Frau, die gut mit angepackt hat.

Die ganze Situation als Musiker und Künstler in den Staaten ist eine total andere. Gerade wenn man sich Länder anschaut, die mit Subventionen weitaus mehr getan haben als unsere Republik - sagen wir mal Holland und die skandinavischen Länder -, kann man gut verstehen, warum die Amerikaner immer so gut gelaunt waren, wenn sie in diesen Ländern mal bleiben konnten. In den Staaten kommt immer noch die Schwarz-und-Weiß-Frage dazu, die ist ja nicht verschwunden, sie ist ja da, und es gibt eine Presse, die ist ganz gewiss in New York besetzt mit Leuten, die John Zorn sicherlich lieber haben als William Parker. Obwohl der Beitrag Parkers für die musikalischen Szenen der Stadt in den letzten (wie lang kenn ich ihn?) 30-35 Jahren weitaus größer ist als der, den Zorn geleistet hat.

Gut, meine persönlichen musikalischen Vorlieben sind nun mal auf Parkers Seite, aber es hat mit so vielen Dingen zu tun, es ist ein täglicher Kampf ums Überleben und deswegen ist es auch häufig so, dass gewisse Leute einfach aufgeben, ins Kommerzielle rutschen. Ich möchte mal gerne wissen, wo Albert Ayler gelandet wäre… Der Produzent Bob Thiele von Impulse Records fing ja schon an, ihn in ´ne gewisse Richtung zu drücken. Ich hab’ nichts gegen die Marsalis-Leute und den ganzen Clan; ich denke, was sie machen, machen sie gut; ob’s notwendig ist, ist dann die andere Frage. Aber das so was nur stattfinden kann mit Hilfe von Coca-Cola und Lincoln Center ist auch klar.

Es gibt zwar Stiftungen usw., aber sobald sie etabliert sind, wird dann auch der Deckel zugemacht und fürs eigene Wohl gesorgt – menschlich verständlich, bloß der Musik nicht unbedingt zuträglich. Es ist schon eine schlimme Sache und hinzu kommt, dass diese globale Ausartung der kommerziellen Musik… Wenn ich mir das ganze Entertainment-Business angucke: es passiert nichts, es wird nur Geld gemacht, es ist besetzt von cleveren Geschäftsleuten, aber musikalisch geschieht nichts. In den 40er-Anfang 50er Jahren war Jazzmusik noch ein Bestandteil dieses Business, was einerseits gut war, denn es gab Jobs und Geld; auch das gibt es nicht mehr, es wird alles direkt in Schubladen gepackt, und sobald etwas anfängt irgendwie erfolgreich zu sein und Publikum anzuziehen wird’s vermarktet. Und der Jazz gehört heute nicht mehr dazu. Aber es gibt ein Publikum und wenn ich in St. Louis in irgendeinem Schuppen spiele kommen die 150 Leute. Im öffentlichen Ansehen findet Jazzmusik drüben jedoch fast nur noch im Underground statt. Das macht es natürlich schwer, sein Leben lang daran festzuhalten.

Ich denke, mein gutes Image in den Staaten hat auch viel damit zu tun, dass ich mich nie angebiedert habe. Ich war mir immer bewusst, ich bin ein weißer Europäer und mache das so, wie ich das für richtig halte. Dabei habe ich einige ganz lustige Zeiten mit meinen schwarzen Freunden erlebt, wo man dann ganz gut herausgefordert wurde. Der erste Eindruck: Ja, was will der Junge da aus Europa? Nee – da muss man denen zeigen, manchmal auch sehr dumm, (lacht) sehr stupide, wer länger und lauter kann! Dann war´n se erstmal still. Man muss denen schon durchaus zeigen, dass man was Eigenes zu bieten hat, weil die ja gewohnt sind, dass der Eine spielt wie Johnny Griffin und der andere wie Albert Ayler oder es versucht. Und da war nun mal einer, der´s nicht so machte!

Ich hab´ ja furchtbar viel mit schwarzen amerikanischen Freunden gespielt, das fing hier mit (dem Trompeter) Don Cherry an, sehr sporadisch, als er noch in Südschweden wohnte mit seiner Familie. Da hatte er viel bei (Joachim Ernst) Berendt (im Südwestfunk) zu tun gehabt und kam dann immer auf dem Weg nach Süddeutschland bei uns hier in Wuppertal vorbei, blieb mal ´ne Nacht oder zwei, ist ja auch damals im Trio ab und zu mal eingestiegen.

(Den Schlagzeuger) Andrew Cyrille hab ich Mitte der 60er Jahre bei (dem Pianisten) Cecil Taylor kennengelernt und seitdem hatten wir immer Kontakt und dann später auch mal durchaus viel gespielt. Andere Leute wie Fred Hopkins, ein wunderbarer Bassist – das war eine leider zu kurze Zeit; oder (der Schlagzeuger) Phillip Wilson, den sie ermordet haben. Wir waren dabei ein Trio zu basteln und hatten in New Yorker Kneipen gespielt; als ich dann das nächste Mal kam hatten sie ihn abgemurkst…

Das waren schon Herausforderungen, aber die sind alle in einer sehr freundschaftlichen Weise geendet. Gottseidank. Es geht ja durchaus auch immer um die Physik dabei, und wenn die zwei Stunden spielten, tat ich das auch – oder umgekehrt. Wir haben uns ja manchmal auch gut auf den Arm genommen dabei. Das gehört dazu, dieser etwas pubertäre Männerkram, aber es hat schon Spaß gemacht. (lacht) Man muss ihnen schon zeigen, dass man da ist und auch keinen Fuß breit weichen.

Mit (dem Schlagzeuger) Han Bennink in diesem frühen Trio war es immer ein Kampf, da konnte man keine Sekunde lockerlassen. (Der Pianist) Fred van Hove war immer das verbindende Glied zwischen uns und hatte eine Riesentechnik, er war in der Lage in Wellen zu denken, in Bewegungen. Unsere intensiven Streitgespräche konnte er aus dem Nichts weiterführen zur nächsten Partie. Ich denke, da haben wir alle viel gelernt in diesen langen Jahren.

Erstens wenn ich ins Horn blase, soll man das auch hören. Und zweitens auf die Bühne sich hinzustellen und erstmal zu sagen „Kinder, hier bin ich“ ist schon ´n wichtiger Punkt.

Was immer man tut auf der Bühne – ob es nun im Augenblick richtig oder falsch ist -: man muss wissen was man tut. Dinge irgendwie kleckern, auslaufen zu lassen, hasse ich wie die Pest. Wichtig ist, wenn man selbst etwas runterbringt, auf einen gewissen Nullpunkt, dass der Nächste da ist und aufbauen kann. Aber einfach Dinge so verschwinden zu lassen, ist ein fürchterliches Gefühl für mich, das geht nicht.

KL: Es gibt berühmte Brötzmann-Anfänge auf vielen deiner Alben, wo sofort diese Spannung da ist. Das heißt, es gibt eigentlich gar keine Aufbauphase, sondern es geht sofort los, oft bereits ab 0:00.

PB: Ja, das ist wie ich ehrlich zugeben muss, auch so eine Art von Selbstschutz. Wenn das alle Drei oder Vier machen, erobert man sich ´nen gewissen Freiraum, weil das funktioniert. Man muss ja auch auf der Bühne den ersten Atem holen und sich auch irgendwie positionieren, ´n bisschen wohlfühlen, dazu sind diese Minuten außerordentlich wichtig. Dann kann man gucken, wie man weiter die Dinge baut, ob man abbaut, oder noch weitergeht. Wenn es einem nicht ganz sicher ist, wie man´s machen sollte, ist das ein durchaus legitimes Rezept, keinen großen Fehler zu machen und sich erstmal diesen Freiraum zu schaffen.

Dass sich wie bei Coltrane die Dinge langsam aufbauen war nie meine Sache. Früher hat man ´n nettes Thema gehabt, es gab bei Coltrane immer dieselbe Reihenfolge von Stücken; das gibt einem natürlich auch eine gewisse Sicherheit. Bloß sind wir ja immer etwas risikofreundlicher gewesen, aber dieses gemeinsame Loslegen hat schon ´ne ähnliche Funktion.

KL: Mir scheint oft, du spielst genau den Ton, den du innerlich hörst. Ob man das jetzt Ehrlichkeit oder Wahrhaftigkeit nennen soll. Du hast de facto nie Saxofon gelernt oder studiert, wie das viele heute tun, sondern dir einen eigenen Weg gebahnt. Wenn man das befolgt, und den Ton spielt, den man spielen will, gibt es streng genommen auch kein Richtig oder Falsch mehr, oder?

PB: Nee, das ist richtig. Und ich glaube, das mit dem Ton trifft auch zu, das weiß ich. In meiner Hörvorstellung gibt es dieses Richtige oder Falsche, die Zugehörigkeit oder ein Das-kannst-du-nicht-machen nicht.

Wenn man zehn Minuten lang solomäßig unterwegs ist, bewegt man sich ja in einem gewissen Strom, da ist es manchmal bequem drin zu sein, und dann will man da auch gar nicht mehr raus aus diesem Flussbett. Wenn da irgendwer anders kommt und mal dazwischen querschießt, tut das mal ganz gut.

KL: Zum Thema Musik als Ventil usw., es wurde oft geschrieben, in deiner Musik würden Gefühle wie Liebe oder Hass ausgedrückt.

PB: Ich hab´ das früher öfter gelesen und lese es heutzutage immer noch hier und da. Nein, das ist natürlich Quatsch, das wäre auch viel zu simpel, es geht schon woanders hin, das funktioniert so nicht. Es geht ja im Blues auch nicht darum, dass irgendein armer Neger am Mississippi sitzt und all das erzählt, was er so vor sich hat. Nein, so simpel ist das nicht.

Es geht eigentlich – wenn ich das so sage von Geschichten erzählen – um die Preisgabe eines inneren Zustandes, der sich auch nicht in Worte fassen lässt. Wenn ich das könnte, hätte ich mir vielleicht ´nen Bleistift gekauft.

Es sind subtilere Angelegenheiten, die da vor sich gehen. Was ich meine ist, dass man wirklich ein Stück von sich hergibt; und dann ist es am Zuhörer - wie auch in der Bildenden Kunst als Betrachter - ein bisschen davon mitzukriegen. Wenn ich das was ich preisgebe, stark genug wiedergeben kann, kommt das auch ´rüber. Manchmal kommt´s auch ganz falsch ´rüber, weil die Hälfte ja von meinem Gegenüber kommt, vom Menschen, der zuhört.

Aber da kommt man dann zu solchen Begriffen wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit usw., was im Bereich der Musik immer sehr vage bleibt. Was ich versuche, wenn ich auf der Bühne stehe und in dieses Horn blase, gibt’s auch nicht mehr als das. Dann gibt es mich, die Bühne und das Horn; damit muss und will ich auch was machen. Das Publikum ist mir immer wichtig, ob das einer oder zehn oder zehntausend sind. Wenn ich da schon stehe und was sagen oder preisgeben will, kein Gegenüber hätte könnte ich mir das auch selbst erzählen, da brauchte ich nicht den ganzen Aufstand. Aber ich will ja schon klar machen: ´Leute, das hab ich zu sagen.´

KL: Deine sehr unterschiedlichen Soloalben zeigen nochmal eine ganz andere, intimere Facette deines Schaffens.

PB: Die meisten Soloalben sind im Studio entstanden und da kann man auch mal was ganz anderes versuchen. Eine Solosession hat bei mir meistens zwei Tage gedauert; so kann man auch wieder wegschmeißen, was man am ersten Tag gemacht hat. Ich kann mich an eine Situation erinnern für das Soloalbum „No Nothing“. Da hatte mir (der Produzent) Jost Gebers in einem Studio in Berlin-Wedding eine Matratze hingelegt und ich hatte meinen Eisschrank dort. Hab´ dann die Knöpfe selbst bedient und Tag und Nacht war freie Bahn und Zeit und ich konnte tun und lassen was ich wollte. Aber ich brachte nix zustande! Ich versuchte´s, schlafen, hingelegt, Bier getrunken oder sonst was, nix funktionierte!

Als Jost dann am zweiten Tag vorbeikam… Ja, Scheiße, Jost, ich kann nich´, geht nich´… Dann hab´ ich´s noch eine Nacht weiter versucht und dann ging´s. Ich hatte mir das so schön vorgestellt! (lacht). Der Eisschrank voll mit allerlei Dingen, und das Bett ist da, und hier steht die Maschine und ich dachte: Eigentlich ideal!

In früheren Zeiten hab´ ich mir sogar mal ´n Programm zusammengedacht, sogar manchmal was aufgeschrieben. Die Dinge ´n bisschen abzuarbeiten, stückemässig. Doch jedes Mal, wenn ich das versuchte, stellte ich fest: Das ist nun nicht mein Weg! Also – ich hab’s versucht, nach den ersten zwei Dingen gesagt: Schmeiß´ die Liste weg! Dreh´ den Kopf um und fang´ von vorne an! Ja und dann ging´s.

Ich bin vielleicht auch nicht der Typ, der ein Stück braucht und damit was macht, sondern eher einer, der das Stück macht, während man´s macht. Die Stücke, die ich mal für größere Gruppen gemacht habe, habe ich nie als Komposition, Score oder Kunstwerk gesehen, sondern nur eigentlich als eine kleine Hilfe, um in Gang zu kommen, mit dem Tentett in frühen Zeiten. Oder bei dem Klarinettenprojekt, da hatte ich auch ´n riesengroßes Score gehabt; eigentlich auch nur, um den Einzelnen zu zeigen: den Freiraum gibt’s oder das können wir mal zusammen machen. Ich wollte nie einen Akkord soundso gespielt haben, sondern sagen: ´Kinder, findet den Akkord!´

KL: Hier müssen wir natürlich nochmal aufs heute legendäre Album „Machine Gun“ (1968) kommen. Und vielleicht mal versuchen, das Klischee zu revidieren: alle spielen einfach drauflos, es dauert 35 Minuten und dann ist Schluss! Es gab ja auch da schon sowas wie Kapitelüberschriften, wie Zeichen in der Landschaft, Verkehrszeichen, Relaisstationen. Gewisse Punkte, wo etwas umschlägt. Dann dieser aufregende Schluss von „Machine Gun“, wo eigentlich Thema gespielt wird.

PB: Ja, wenn man genau hinhört: am Anfang gibt’s ein Charles Ives-Zitat und zum Schluss kommt die Rock´n´Roll-Nummer, und zwischendurch passieren ´n paar Dinge. Also, dieses Märchen von Jeder-spielt-was-er-will, ich weiß nicht, wer von deinen Kollegen die erfunden hat, aber das war immer Quatsch.

KL: …steckte vielleicht schon im Namen: „Free Jazz“!

PB: Deswegen konnte ich das ja nie leiden, weil der automatisch zu vielen Missverständnissen geführt hat. Das hatte vielleicht mit der politischen Situation in den Sechzigern sowohl in den Staaten als auch hier zu tun, aber es war auf jeden Fall ein unglücklicher Begriff.

KL: Du hältst noch immer an der Bezeichnung ‚ Jazzmusiker’ fest?

PB: Heute, wenn ich mal Radio höre - ich will jetzt keine spezielle Sender-Bigband nenne - aber das ist doch alles harmloser Unfug. Das läuft eigentlich dem, was wir hinter uns und hoffentlich auch noch vor uns haben, total zuwider. Oder es sind einfach zwei so getrennte Schubladen, die eigentlich miteinander nichts mehr zu tun haben. Ach, Jazzmusiker, ja…

Ich war mal bei irgend ´ner Podiumsdiskussion in Atlanta mit Bill Dixon, Evan Parker, Amiri Baraka und noch so´n paar Leuten. Die haben sich dann gestritten, wo kommt Jazz her, das Wort, da gab’s all die Erklärungen, die man im Lexikon nachlesen kann. Alles Blödsinn. Ich spiel´ gerne und ich denke, dass Musik machen etwas mehr ist als nur schön Saxophon spielen zu können. Ich brauch´ das zum Leben und es muss früher sagte man „swingen“ - oder auf jeden Fall muss es pulsieren und sich weiterbewegen. Vor allem muss man auch, ich bin mir dessen ganz sicher, eine soziale Basis haben für die Musik.

Die Bands, die ich mir zusammensuche oder die sich so ergeben, gibt’s nicht nur, weil alle so tolle Musiker sind, sondern weil mir miteinander was zu tun haben, weil wir korrespondieren auf diese oder andere Art und Weise. Und wir sollten nicht vergessen, dass Jazzmusik eine ganz fundamentale Bedeutung in der Gesellschaft hatte, in der sie gespielt wurde. Und das hat mich eigentlich als Kind schon immer fasziniert, als ich die ersten schwarzen Bands gesehen habe.

Oder meine ersten Besuche in den Staaten, wo ich gelernt habe, alles was ich vorher nur gelesen hatte, wo ich merkte, es geht darum. Nicht nur tolle Musik zu machen. Wenn ich was hasse, ist es Kunstgewerbe: Da kann einer ganz viele nette kleine Dinge, und dann macht man was…

Nein – es geht ums Leben, um Überleben, das hört sich jetzt furchtbar pathetisch an, aber ich meine es wirklich ganz ernst. Es ist auch nicht eine Sache, die man mal in irgendeinem Lebensabschnitt machen kann – ob der vier Wochen dauert oder vier Jahre. Es ist eine lebenslange Reise, herauszufinden: wie weit kannst du gehen, wohin kannst du gehen, wo befindest du dich im Augenblick. Oder, noch schlimmer: Wo wirst du dich am Ende dieses Weges wiederfinden?

All diese gottverdammten Musikschulen, ob sie Berkeley heißen oder Kölner Musikhochschule: Wenn die nicht in der Lage sind, den Leuten beizubringen, was Musik ist, und nicht nur aus Kontrapunkt und Kompositionslehre und Scales und-ich-weiß-nicht-was besteht: alles prima, kann man alles lernen, aber das ist nur Handwerkszeug, das kann man putzen und das soll funktionieren, bloß wenn’s da nicht mehr gibt, ist die Musik bald zu Ende.

Die Wurzel der Musik kommt woanders her und nicht aus den Schulen. Die muss schon irgendwo aus den guts (der Eingeweide) kommen und der Einstellung zum Leben und nicht von den Hochschulen, bei denen ich das Gefühl habe, sie sind nur verlängerte Gymnasien, wo man lernt dieses oder jenes so zu tun.

(Das Gespräch mit Peter Brötzmann fand in seiner Wohnung in Wuppertal-Elberfeld statt.)