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Das Irrenhaus heilen...

Aydur Gaynullin und seine Band im Marler Theater

Marl, 31.01.2024
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Vor dem Theater Marl rostet eine alte Güterzug-Dampflokomotive vor sich hin, die umgedreht in einer Versenkung steht. Wolf Vostells symbolträchtige Skulptur "La Tortuga" symbolisiert als Mahnmal das schlimme Menschheitsverbrechen von Deportationen, welches als finale Folge aus Intoleranz und Ausgrenzung erwuchs. (Die Aufstellung dieser Installation spaltete damals die Meinungen und Gemüter – und wie!). Am 27. Januar drückten dort Tausende von Menschen ihre Ablehnung gegen solche Haltungen aus, was man damit wohl als Mehrheitsmeinung betrachten darf. Wenige Stunden später demonstrierte ein Konzert mit dem aus Russland stammenden, in Berlin lebenden Akkordeon-Virtuose Aydar Gaynullin und seiner Band die ganze Selbstverständlichkeit, mit der real gelebtes kulturelles Miteinander funktioniert - gerade in der Musik. Im Zentrum stand die Uraufführung von Aydar Gaynullins Neubearbeitung von Alfred Schnittkes "Gogol Suite", die der weltweit gefragte Bajan-Virtuose zu einer furiosen Rock-Jazz-Crossover-Revue mutieren lässt.

Sarkasmus, der versöhnlich wirkt

Die „Gogol Suite“ ist purer Sarkasmus. Sie basiert auf einem Theaterstück, das den Wahnsinn in der Welt in schrägen Anspielungen und Allegorien vorführt - anhand einer Hauptfigur, die immer tiefer in dieses kollektive Irrenhaus, das sich Gesellschaft schimpft, abdriftet. Viele Symbolfiguren treten auf: Ideologien, Bürokraten, verstrahlte Despoten. Alle tragen zum Auseinanderdriften der Systeme bei. Ja, das hat Aktualität: Menschen, die zu Sklaven ihrer Rollen und Machtinstinkte werden. Vernunft und Empathie sterben als Erstes. Sich darüber lustig machen, ist ein Weg, um innerlich wieder frei zu sein. Gaynullin fühlte sich von Schnittkes verführerischem, oft gleißend scharfem und immer wieder sarkastischem Musikstil magisch angezogen und hat Teile daraus seit seiner Jugend immer wieder solistisch gespielt. Die Neubearbeitung für eine fünfköpfige Band bestehend aus E-Gitarre, Violine, Kontrabass, doppelter Percussion und Bajan als Hauptinstrument lässt aber den Zynismus der Welt durch viel wärmende Klangfarbe und Live-Energie locker hinter sich. Es gibt treibende Riffs und immer wieder höchst wirkungsvolle Korrespondenzen zwischen Akkordeon und E-Gitarre. Die Schnitte in diesem Film erfolgen rasch: Volksliedparodien, immer wieder progressive Rock-Höhenflüge mit fast schon psychedelische Soli, aber auch Geräuschkollagen, verrockte Bachfugen und manchmal mischt sich sogar ein Kunstpfeifer ein, was auch mal an Ennio Morricone oder an Filme von Aki Kaurismäki erinnert. Geigerin Sophie Mosers Bühnenpräsenz nimmt man ohne weiteres ab, dass sie auch als Schauspielerin unterwegs ist. Sie rezitiert zwischendurch einige Textfragmente, die den labyrinthischen Gesamteindruck auf eine psychologische Ebene heben. Am Ende des Werkes steht ein ukrainisches Volkslied. Jeder Mensch ist ganz viele, wenn es um kulturelle Herkunft geht. Schnittke war Deutscher und machte in der Sowjetunion Karriere. Die Hauptperson Gogol ist halb Russe, halb Ukrainer. Gaynullin ist ein tatarischer Musiker und machte in Russland Karriere, lebt heute in Berlin, einem der wohl immer noch weltoffensten Plätze auf diesem Planeten. Genauso wie der Percussionist Arvi Srinivasan, der sich dem globalen Jazz, aber auch der klassischen indischen Musik verschreibt. Alle sind hier in der Musik vereint und lieferten im Marler Theater ein emotionales Statement, das in unfriedlichen Zeiten umso verbindender wirkt.

Kreative, integrative Offenheit

Auch die anderen Programmpunkte dieses Konzerts im Rahmen der von Evelyn Fürst-Heck kuratierten Marler „Maestro“-Reihe sprühten vor kreativer, integrativer Offenheit und purer, virtuoser Spiellust, die vor allem bei Aydar Gaynullin keine Grenzen kennt. Zunächst präsentierte er sich solistisch mit Petri Makkonens Stück "Flight beyond Time" – solche feingewebten Texturen hat man wohl selten so aus einem Akkordeon vernommen, Makkonens Stück war zudem eine spannende Kostrobe für jenen fast schon spirituell wirkenden Minimalismus, der viele zeitgenössische Musiken im Baltikum auszeichnet (was sich auf dem Usedomer Musikfestival, wo Gaynullin auch schon auftrat, studieren lässt.) Gaynullin rockte auch schon zusammen mit einem Cellisten große Arenen mit weit über 10.000 Menschen - und nahm sich dabei dem Repertoire von ACDC an. Solche Energien sind spürbar, wenn er hier im Duo mit Sophie Moser in Bartoks rumänischen Tänzen zu einer extrem robusten Interaktion aufspielt. Klar – Wohlfühlprogramm für das Publikum hatte Gaynullin auch im Gepäck: Eine elegische Piazolla-Ballade, einige Eigenkompositionen, die stark in Filmmusik gehen, schließlich als Zugabe ein dermaßen schwelgerischer, druckvoller Tango als Dankeschön für den warmen, intensiven Beifall. „Musik ist Freundschaft“, definierte Gaynullin im Gespräch hinterher mit einem ganz einfachen Satz, worum es geht.

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